Hausmagazin
Blau-grün vertreibt Fliegen
Vera Bueller
«Frankfurter Küche» Architektin Margarete Schütte-Lihotzky 2018
Die holländische Künstlergruppe Droog & Kesslers Kramer zeigte an der Architektur-Biennale 2008 in Venedig dazu das Wohnprojekt «SINGELTOWN». SINGELTOWN zeigte nicht nur, dass sich das geschlechterspezifische Rollenverständnis gewandelt hat (einer Frau wird nicht mehr ausschliesslich die Rolle einer Ehefrau, Mutter und Hausfrau zugeschrieben – und einem Mann nicht mehr ausschliesslich diejenige des Ernährers und Präsentators),sondern wies auch auf die veränderten gesellschaftlichen Wohnbedürfnisse hin. Diese sind nicht zuletzt eine Folge des demografischen Wandels (die höhere Lebenserwartung führt dazu, dass immer mehr Menschen im Alter alleine Leben) und der Migration(Menschen die zunächst ohne Familie in einem anderen Land auf Arbeitssuche sind). Aber auch die steigende Zahl der Scheidungen und der nachlassende Kinderwunsch führten zu einem grösseren Bedarf an Singlewohnungen.
«Unsere Wohnquadratmeter»
Wo führt das hin? Über die Zukunft und die Beeinflussung der Geschlechterrollen auf die Wohnbedürfnisse können wir nur mutmassen. Studien zeigen, dass Wohnen in Zukunft flexibel sein muss. Flexibel bedeutet, dass man sich von der Idee fixer Raumfunktionen und Raumkonstellationen verabschieden muss. Es werden neue Projekte entstehen, die den wandelnden Bedürfnissen mit anpassungsfähigen Wohnmodulen Rechnung tragen. So könnte beispielsweise das Wohnen in einem Containersystem schon bald die Wohnwelt erobern. Bei diesem System startet eine (Single-)Person mit einem Wohncontainer und erweitert ihr zu Hause je nach verändertem Wohnbedarf mit weiteren Wohncontainern. Diese werden auf oder neben dem ursprünglichen Container gestapelt. Je nach dem, wie sich das Leben gerade verändert, wird ein Bürocontainer oder ein Kinderzimmercontainer dazu gebaut.
Eine weitere Zukunftsidee: «Meine Wohnquadratmeter» verwandeln sich in «unsere Wohnquadratmeter». Damit ist gemeint, dass es künftig über die eigenen vier Wände hinaus gemeinsam genutzten Wohnraum geben wird. Wir kennen das noch von älteren Mehrfamilienbauten mit der sogenannten «Waschküche». Zukünftig kann es durchaus sein, dass gemeinsam genutzte Küchen und Erholungsräume entstehen. Flexibles Wohnen, mit Rückzugsmöglichkeiten und der Möglichkeit nach Sozialkontakten, sowie nachhaltiges, umweltfreundliches Wohnen: So wird unser Wohnen der Zukunft sein. Wie weit diese zukünftigen Wohnformen von unseren Geschlechternormen beeinflusst werden, wird sich erst noch zeigen.
In fast allen Wohnungen gibt es Einbauküchen. Eine Entwicklung der heutigen Zeit, könnte man meinen. Aber die Mutter aller Einbauküchen ist eine Frau der 1920er Jahre: die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. Sie wollte mit ihrem Modell «Frankfurter Küche» erreichen, dass die Frau weniger Zeit in der Küche verbringen muss.
Margarete Schütte-Lihotzky war die erste Frau, die in Österreich ein Architekturstudium abgeschlossen hatte. Sie arbeitete für den Frankfurter Stadtbaurat Ernst May, der für «das Neue Frankfurt» der 1920er Jahre zuständig war. Angesichts der steigenden Bevölkerungszahlen und der städtischen Wohnungsnotnach dem Ersten Weltkrieg ging es bei diesem Bauprogramm um günstigen, effizient und sparsam genutzten Wohnraum mit einer einfachen, preiswerten Ausstattung für grosse Bevölkerungszahlen. Dabei sollten die technischen und hygienischen Standards der damaligen Zeit (fliessendes Wasser, Gas und Elektroenergie) auch unteren Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht werden.
Margarete Schütte-Lihotzkys Ziel war es, dafür eine Küche so praktisch «wie einen industriellen Arbeitsplatz» zu gestalten: Alle wichtigen Dinge sollten mit einem Handgriff erreichbar sein, und durch die Integration zahlreicher Küchengeräte wollte sie die Arbeitsgänge zusätzlich verkürzen. Gleichzeitig hatte die Architektin hohe Designansprüche, obwohl ihre so genannte «Frankfurter Küche» nicht für das gehobene Bürgertum sondern für die untere Mittelschicht und die Arbeiterklasse gedacht war. Bis 1930 wurden allein in Frankfurt mehr als 10 000 Wohnungen mit ihrem Küchensystem (in drei Grössen) ausgestattet, hauptsächlich im städtisch finanzierten sozialen Wohnungsbau. Die Fertigungskosten lagen anfänglich bei 500 Mark und konnten im Laufe der Zeit dank hoher Stückzahl und Fliessbandarbeit sogar um die Hälfte gesenkt werden. Das Konzept inspirierte auch den «Massenwohnungsbau» in der Schweiz bis in die Sechzigerjahre. Unumstritten war die «Frankfurter Küche» allerdings nicht. Denn mit ihr ging eine Veränderung der Wohnkultur einher: Bis in die 1920er Jahre war die mit Einzelmöbeln bestückt Wohnküche der zentrale Raum der Familie. Hier wurde gekocht und gegessen, hier hat man sich getroffen. Im sozialen Wohnungsbau fehlte dafür der Platz. Ausserdem führte die Abtrennung der Küche vom Rest der Wohnung zur Isolierung der Frau – und wurde immer wieder kritisiert. Im hohen Alter von hundert Jahren bemerkte Schütte Lihotzky in einem Interview etwas verärgert: «Wenn ich gewusst hätte, dass alle immer nur davon reden, hätte ich diese verdammte Küche nie gebaut!»
Für die Sozialaktivistin (und Nazi-Widerstandskämpferin) standvielmehr die gesellschaftliche Entwicklung im Zentrum ihrer Arbeit: Sie ging davon aus, dass die Frau zum Broterwerb der Familie einem Beruf nachgehen müsse. Deshalb sollte die Hausarbeit so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen – schliesslich musste sich die Frau neben Beruf und Haushalt auch noch um die Kinder kümmern...
Die Architektin wandte als Grundlage für ihre «Frankfurter Küche» das Taylor-Prinzip an, das aus der amerikanischen Industriestammte. Dort wurden einzelne Arbeitsschritte und -wege mit der Stoppuhr gemessen, um die Abläufe zeitlich und räumlich zu optimieren. Dies tat auch Margarete Schütte-Lihotzky im Haushalt. Das Resultat war eine äusserst kompakt gehaltene Küche:
• Der Grundriss des Normaltypus der «Frankfurter Küche» betrug3,44 mal 1,87 Meter, also knapp 6,5 Quadratmeter. Durch ein ausgeklügeltes System konnten alle für die Hausarbeit wichtigen Gerätschaften in diesem kleinen Raum integriert werden. So waren ein Bügelbrett und ein Tisch ausklappbar an der Wand befestigt, diverse Arbeitsflächen konnten ausgezogen werden.
• Die Geschirr-, Topf- und Vorratsschränke waren mit Schiebetüren versehen, eine Deckenlampe zur besseren Ausleuchtung konnte man ebenfalls auf einer Schiene hin- und herschieben.
• In der Mitte der Küche stand ein höhenverstellbarer Drehstuhl, damit alle Tätigkeiten bequem im Sitzen verrichtet werden konnten. Die im Küchenbau verwendeten Materialien mussten leicht abwaschbar und widerstandsfähig sein, lackiert wurde meist in Blau-Grün. Denn Wissenschaftler hatten kurz zuvor herausgefunden, dass sich Fliegen nicht auf blau-grünen Flächenniederliessen.
• Die Arbeitsplatte war aus Naturholz und so niedrig montiert, dass man sitzend an ihr arbeiten konnte. Zur schnellen Beseitigung von Abfällen befand sich rechts in der Platte eine rechteckige Aussparung mit einer darunter montierten emaillierten Schütte als «Zwischenabfall». Die freie Vorderkante ohne Leiste ermöglichte das Befestigen von Küchengeräten (Mayonnaisen Zubereiter, Dosenöffner, Passiergerät etc.).
Bis in die 1980er Jahre wanderten viele Frankfurter Küchen in den Sperrmüll, meist aus Unkenntnis. Eine fast vollständig erhaltene Frankfurter Küche wurde bei einer Auktion in München im Jahr 2005 für 22’680 Euro ersteigert, eine weitere für 34’200Euro. Solche Höchstpreise erzielt allerdings nur die blau-grüne Standardküche. Die einzige öffentlich zugängliche Küche im ursprünglichen Raum befindet sich im Ernst-May-Haus (Im Burgfeld 136, Frankfurt-Römerstadt).