Hausmagazin

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Der Beitrag der Architektur zum guten Wohnen wird überschätzt

Interview mit Ph.D., M.S.W Margrit Hugentobler

2018

Frauen wohnen, Männer planen – kein Wunder, dass so manches schiefgeht. Doch so einfach ist es nicht. Denn Architektur ist immer auch Abbild dessen, was einer Gesellschaft wichtig ist. Ein Gespräch mit der Soziologin Margrit Hugentobler, der ehemaligen Leiterin des Wohnforums der ETH Zürich.

Wohnen Sie frauengerecht?

Margrit Hugentobler: Eine gute, aber vielleicht irreführende Frage. Ich wohne insofern «frauengerecht», als ich genügend Frei und Spielraum in meiner Wohnung habe, um meine Bedürfnisse zu befriedigen: Raum um zu arbeiten mit Büchern und Dokumenten im Hintergrund; Raum um Gäste zu empfangen, zu beherbergen und auch für sie zu kochen. Frauengerecht zu wohnen hängt also stärker von den Herausforderungen als vom Geschlecht ab.

Entscheidend für die «ideale Wohnung» sind die Lebensumstände?

Und der Geldbeutel. Zum andern scheint mir die Bedeutung verschiedener Qualitäten für die oder den Einzelnen oder den Haushalt wichtig zu sein. Fast jede Wohnsituation beinhaltet eine Art «trade-off», ein Abwägen verschiedener Qualitäten oder auch Mängel, die zum Verbleib oder zu einem Wohnungswechsel führen. Wenn das Einfamilienhaus im Grünen Ihr Wunschtraum ist, nehmen Sie dafür vielleicht lange Wege zu Arbeit, Einkaufen, Kultur auf sich. Wenn sie urbane Qualitäten und kurze Wege bevorzugen, müssen Sie allenfalls bereit sein, einen gewissen Lärmpegel zu akzeptieren und auf kleinerem Raum zu leben.

Gibt es denn überhaupt ein spezifisch weibliches Wohnbedürfnis?

Nein, das glaube ich eher nicht. Spezifische Wohnbedürfnisse hängen weniger vom Geschlecht als von der Rolle ab, die Frau oder Mann im Rahmen der Alltagsaktivitäten innerhalb und ausserhalb der Wohnung inne haben.

Wer die Wohnungsinserate studiert, muss aber denken, dass eine Küche mit Geschirrspüler, Keramikherd und Marmorabdeckung das höchste aller Wohngefühle für die Frau ist…

Das ist gewiss nicht so. Das hat unsere Studie (siehe Kastentext) gezeigt und ich bezweifle, dass sich dies seither geändert hat. Funktionalität war schon vor 25 Jahren das zentrale Thema– mehr als Ausstattungsluxus. Und so ist es für die Mehrheit der Wohnenden bis heute geblieben. Geschirrspüler, Keramikherd und Marmorabdeckung gehören wohl in den Küchen von heute zum erwarteten Standard und lösen keine grossen Glücksgefühle aus.

Was braucht es denn zusätzlich zu Funktionalität, um Frauen beim Wohnen tatsächlich glücklich zu machen?

Rückzugsort, Privatsphäre, Ruhe, Aneignungsmöglichkeiten, aber auch helle Räume sind wichtige Aspekte, die mit grundlegenden menschlichen Bedürfnissen nach Ruhe, Privatheit aber auch nach ästhetischen Qualitäten zu tun haben. Sie sind nicht spezifisch weiblich, aber da Frauen in der Regel mehr Zeit als Männer in der Wohnung verbringen und diese, vor allem in der Familienphase, vielfältiger nutzen, sind sie für Frauen oft wichtiger. Nicht zu unterschätzen ist auch die Qualität der nachbarschaftlichen Beziehungen. Manch eine ansonsten geliebte Wohnung wurde schon aufgegeben, weil sich nachbarschaftliche Konflikte – oft wegen des Lärms – scheinbar nicht lösen liessen.

Ich glaube nicht, dass heute unterschiedliche Frauenbedürfnisse der Grund für den (wieder)verbreiteten Bau von Wohnküchen sind. Gemeinsam zu essen ist eine zentrale soziale Aktivität des Zusammenlebens.

Und was fehlt meist?

Stauraum – vor allem, wenn die bis vor kurzem ständig wachsenden Wohnflächen in urbanen Zentren tendenziell wieder kleiner werden. Im Kontakt mit Architekten und manchmal auch Architektinnen(!) – fällt mir immer wieder auf, wie wenig Gedanken sich viele von ihnen bei der Grundrissgestaltung betreffend Funktionalität und Wohnalltag machen.

Was ist mit der Küche? Die kleine praktische so genannte Frankfurter Küche (siehe Seite 16/17) stand einst für die Emanzipation der Frau. Heute baut man wieder grosse Wohnküchen. Was hat sich da in der Gesellschaft verändert?

Ich glaube nicht, dass heute unterschiedliche Frauenbedürfnisseder Grund für den (wieder) verbreiteten Bau von Wohnküchensind. Gemeinsam zu essen ist eine zentrale soziale Aktivität des Zusammenlebens. Falls der Raum gross genug ist, findet das soziale Alltagsleben in den meisten Haushalten mit mehr als einer Person in der (Wohn-)Küche statt. Dieser Raum erlaubt die Vorbereitung der Speisen, das Kochen und Essen, aber auch das Spielen, das Diskutieren, den Austausch, und auch die Erledigung administrativer Arbeiten... mit Papier oder Laptop. Wo man gemeinsam kocht, braucht es auch mehr Platz für ein Mit- und Nebeneinander.

Was hat Sie vor 25 Jahren überhaupt dazu veranlasst, eine Studie über die Wohnbedürfnisse der Frauen zu machen?

Die Studie entstand vor dem Hintergrund, dass damals sowohl in der Architektur und vor allem bei den Investoren ziemlich stereotype, undifferenzierte Bilder darüber bestanden, was «der Mieter» haben will. Das hat sich gewiss verändert, weniger weil man heute vermehrt für Frauen als ein spezifisches Wohnpublikum bauen würde, sondern weil man anderen wichtigen Aspekten viel mehr Beachtung schenkt: den nutzungsflexibleren Wohnräumen, den halböffentlichen und anderen gemeinschaftlich genutzten Räumen wie etwa den Waschküchen, den Erschliessungsbereichen, den Aussenräumen, der ÖV-Anbindung, den Wohnsiedlungen in städtischen respektive zentralen Lagenkombiniert mit anderen Nutzungen.

Nun haben Sie aber gesagt, dass sich die Wohnbedürfnisse je nach Lebenssituation immer wieder ändern.

Ja, klar. Für junge Erwachsene spielen die Qualitäten der Wohnung häufig keine so zentrale Rolle. Mann und Frau sind viel unterwegs, verbringen oft wenig Zeit zuhause, haben geringere Ansprüche an Privatheit oder Wohnraum – und meist auch beschränkte finanzielle Mittel. In der Familienphase, in der sich jedoch heute nur noch ein Drittel der Haushalte in der Schweiz befindet, spielen Platz, Optionen für die Vielfalt der stattfindenden Aktivitäten – Spielen, Lernen, Arbeiten, Kochen, Waschen – eine grosse Rolle. Mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen und den sich ändernden Rollenverständnissen werden diese Aspekte immer wichtiger. Im höheren Alter gewinnt dann die Hindernisfreiheit der Wohnung und deren Erschliessung an Wichtigkeit. Bringdienstleistungen werden wichtiger als Holdienstleistungen. Frau und Mann verbringen mehr Zeit zuhause, die Qualitäten der Wohnung – auch Ruhe und Helligkeit – werden noch wichtiger. Eine zentrale Lage mit gutem Zugang zu Infrastrukturangeboten aller Art kann entscheidend dazu beitragen, die Autonomie zu fördern und einer allfälligen Vereinsamung entgegenzuwirken.

Wird beim Wohnungsbau ausreichend auf die Lebenssituation im Alter eingegangen?

Nein. Obwohl die demografischen Daten bekannt sind, kümmert sich ein grosser Teil der Wohnbauinvestoren noch viel zu wenig um dieses wachsende «Kundensegment». Noch immer werden zu viele grosse Wohnungen gebaut, auch wenn die Nachfrage im Bereich kleinerer Wohnungen viel grösser ist. Da Frauen im Durchschnitt älter werden und häufiger als Männer allein leben, sind sie vor allem auch von dieser Entwicklung betroffen, welche der Wohnungsmarkt ungenügend Rechnung trägt.

Als Soziologin und Wohnexpertin glaube ich, dass der Beitrag der Architektur zum guten Wohnen überschätzt wird. Es geht um viel mehr als schöne und funktionale Raumgestaltung.

Ist es damit getan, die Architektur zu verbessern, praxistauglicher zu machen?

Neue, gute Wohnlösungen entstehen in der Kombination von Funktionen und Nutzungen und in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen. Als Soziologin und Wohnexpertin glaube ich, dass der Beitrag der Architektur zum guten Wohnen überschätzt wird. Es geht um viel mehr als schöne und funktionale Raumgestaltung. Andererseits handeln die Architektinnen und Architekten ja im Auftrag der Bauträgerschaften. Da haben interessante architektonische Vorschläge oft wenig Chancen, weil sie Bauten vielleicht verteuern. Die profitorientierten institutionellen Investoren – also Banken, Versicherungen, Pensionskassen – und private kleine Investoren sind oft sehr konservativ. Es geht um viel Geld und man möchte das Risiko gering halten. Das funktioniert aber nur in einem Wohnungsmarkt mit grossem Nachfrageüberhang. In urbanen Zentren springen oft die Wohnbaugenossenschaften in die Lücke. Sie sind die Innovationsträger geworden, von denen langsam auch andere Akteure lernen.

Studie

Wohn- und Lebensgeschichten von Frauen aus drei Generationen

Frauen sind die wohnende Mehrheit: Sie gründen ihren eigenen Haushalt früher als junge Männer und überleben ihre Partner oft um ein gutes Jahrzehnt. Ob berufstätig oder nicht, sie verbringen im Wohnbereich sehr viel Zeit. Werden aber Quartiere geplant, Wohnungen gebaut, Regeln für das Zusammenleben festgelegt, bleiben Fachmänner mit ihren einfachen Bildern über «die Hausfrau» und ihre vermeintlichen Bedürfnisse unter sich. Ganz nach dem bewährten Klischee: Männer bauen, Frauen wohnen.

Mit dieser Thematik befasst sich eine Studie der ETH, die Susanne Gysi, Dozentin für Soziale Arbeit, und die Soziologin Margrit Hugentobler 1996 verfasst hatten. Dafür wurden 32 Frauen in unterschiedlichen Wohnsituationen und Lebensphasen ausgewählt und über ihre Wohn- und Lebensbiografie sowie den Stellenwert des Wohnens in verschiedenen Lebensphasen befragt. Frauen aus drei Generationen erzählten ihre Wohn- und Lebensgeschichten – von der Grossmutter im ländlichen Einfamilienhaus über die alleinerziehende Mutter in der Vorortsgemeinde bis zur freischaffenden Single in der Stadt. Sie beschrieben ihre Wohnsituation, benannten Qualitäten und Mängel, begründeten Wohnungswechsel.

Die Studie liefert noch heute wichtige Anregungen für die Wohnwirtschaft und erlaubt den Schluss, dass frauengerechtes Planen, Bauen, Verwalten und Erneuern auch männer- und kindergerechtes Wohnen bedeuten kann.

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