Hausmagazin

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Stadt oder Dorf oder Stadt im Dorf?

Teo Rigas, Dipl. Architekt FH SIA, feldmann projekte

2017

Das Thema der ersten Ausgabe unserer Publikation «dialog» stellt quantitative wie qualitative Fragen. Unsere Autoren beantworten sie je nach Optik unterschiedlich. Politiker oder Politikerinnen müssen sich mit der Stimmung in der Bevölkerung auseinandersetzen und dann Entscheidungen über Bauten und Infrastrukturen fällen, welche die Siedlungen massgeblich beeinflussen. Öffentliche Institutionen, wie der Heimatschutz, aber auch die Denkmalpflege konzentrieren sich auf die Wahrung besonderer Ortsbilder und Objekte. Ihr Ziel ist es, den historischen Ausdruck, trotz Modernisierungsdruck, für die Nachwelt zu bewahren – ein kultureller Akt. Raumplaner wiederum versuchen – sie sind ebenfalls dem Einfluss der Politikausgesetzt –, bestehende qualitätsvolle Strukturen zu wahren und die Siedlungen ihrem Ausdruck entsprechend weiterzuentwickeln. Vor ähnlich schwierigen Aufgaben stehen auch Architekten: Mit jedem umgesetzten Architekturprojekt wird ein Stück Siedlungsgeschichte geschrieben.
Geschichtliches

Bis zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und in einigen Regionen sogar bis ins 20. Jahrhundert bildete die Landwirtschaft in der Schweiz die Haupterwerbsgrundlage. Mit Ausnahme der Städte, die mit Handel und Gewerbe eine starke wirtschaftliche Stellung einnahmen und so ihrer geografischen Lage entsprechend gewachsen sind, wiesen fast alle Siedlungen Ortsbilder mit bäuerlicher Prägung auf.  Der Unterschied zwischen Stadt und Dorf ist also historisch gewachsen. Prägend war dabei die jeweils unterschiedliche Haupterwerbsgrundlage der Bevölkerung. Sie hat so die Bautradition entscheidend geprägt.

Das charakteristische bäuerliche Bild der meisten Gemeinden blieb, obwohl die Industrialisierung bereits voll im Gange war, bis nach dem 2.Weltkrieg weitgehend intakt. Neubauquartiere entstanden vor allem in unmittelbarer Umgebung von Industrieanlagen oder an Schnellverkehrsachsen. Das war die Geburt der Agglomeration.

Durch die zunehmende Modernisierung der Gesellschaft gingen in Dörfern viele landwirtschaftliche Betriebe und damit verbunden auch traditionell bäuerliche Strukturen verloren. Viele traditionelle Bauten wurden umgenutzt oder gänzlich abgebrochen. Die nach Grundsätzen moderner Architekturentstandenen Ersatzbauten negierten vielfach die gewachsene bäuerliche Ausdrucksweise und veränderten so den Charakter und damit auch die Identität der Ortsbilder. Viele Dörfer und auch Weiler verloren ihre traditionelle landwirtschaftliche Anmutung und vielfach auch ihren eigentümlichen Ausdruck. Einige wurde stark verstädtert, andere wiederum vermochten einen kleinen Kern des traditionellen Baubestandes zu erhalten.

Fragen der Qualität

Moderne Architektur ist selbstbewusst. Sie fokussiert stark auf das Einzelobjekt, das in seinem Ausdruck durch das Hervorheben einzelner oder mehrerer Elemente speziell in Erscheinung treten will. Gesucht wird alsodie Individualität des Einzelobjektes. Bäuerlich geprägte Ortsbilder jedoch unterstehen einem traditionsgebundenen Charakter. Das heisst, dass zwischen gleichartigen Bautypen eine architektonische Übereinstimmung festzustellen ist. Eine Scheune ist immer eine Scheune, ein bäuerliches Vielzweckgebäude (Wirtschafts- und Wohntrakt unter einem Dach) ist immer ein Vielzweckgebäude, ganz gleich ob diese anders ausgeschmückt sind. Mit Anwendung gleichartiger Bautypen sowie ortsüblicher stilistischer Elemente entstand eine Bautradition, die der Bevölkerung eine Identität gab, die nicht zuletzt auch als charakteristisches Merkmal bezeichnet werden kann.

Durch den Einzug der Moderne wurde die alte Bautradition verdrängt, die so vielerorts verloren gegangen ist. Durch das in den Siebzigerjahren   entstandene   Bundesinventar   ISOS (Inventar   schützenswerter Ortsbilder der Schweiz)wurden alle Siedlungen und Einzelbauten der Schweiz in ihrem Bestandaufgenommen und qualifiziert. Unter Mithilfe dieses Instrumentes versuchen nun Kantone und Gemeinden Bauwillige zu sensibilisieren, in welchem Mass und in welcher Art in Siedlungen und Einzelbauten Veränderungen zugelassen werden sollen.

Um Charakter und so auch Identität der Ortsbilder bewahren oder im Extremfall reparieren zu können, sind die typologischen Merkmale traditioneller Überbauungen aufzunehmen und in die Projekte zu implementieren. Dabei geht es primär um die Setzung der Gebäude, die im ländlichen Raum meist in einer funktionalen Beziehung zueinander stehen und sich dem Terrainverlauf unterordnen, um die Anwendung historisch gewachsener oder davon abgeleiteter Proportionen, um die Art der Dachgestaltung, um die Art der Grundrissgestaltung und nicht zuletzt auch um das Farb- und Materialkonzept im Innen- und Aussenbereich. Der Gestaltung der Aussenbereiche, Freiräume und Höfe ist ebenfalls höchste Aufmerksamkeit zu schenken. Dies alles jedoch immer auch unter Einbezug zeitgenössischer Architektur.  

Fragen der Quantität

Neben der Ausdrucksform der Bauten nehmen auch quantitative Aspekte eine wichtige Rolle ein. Bei der Frage «Wie viel Stadt verträgt das Dorf?» kommt zweifelsohne auch die Frage der «Dichte» auf. Wobei mit Dichtemeist «enge Verhältnisse» verstanden werden. Dem kann man jedoch mit gutem Gewissen widersprechen. Mit Dichte ist die Anzahl Einwohner je Quadratkilometer, sowie der Flächenverbrauch pro Kopf gemeint. Dazu einige Beispiele: Die Gemeinde Muri (AG), die als «verstädtertes» Dorf gilt, hat als Beispiel 615 Einwohner pro Quadratkilometer, die gesamte Schweiz hingegen im Durchschnitt nur 199 Einwohner pro Quadratkilometer. Muri liegt demnach bereits deutlich über dem Schweizer Durchschnitt.

Die Stadt Sempach indes weist gegenüber Muri eine geringere Dichte auf, nämlich blosse 356 Einwohner pro Quadratkilometer. Die Bevölkerung von Muri definiert ihre Gemeinde, trotz fast doppelter Dichte von Sempach, als Dorf. Das hängt damit zusammen, dass Muri sich immer noch mit der bäuerlich geprägten Tradition identifiziert, obwohl sich die Gemeinde heute wirtschaftlich mehrheitlich gewerblich und industriell repräsentieren liesse. Die Sempacher identifizieren sich klar als Städter, was sich bis zur Gründungszeit zurückzuverfolgen lässt. Der Siedlungstyp von Sempach unterscheidet sich überdies klar von bäuerlichen Bebauungsstrukturen. Die Kleinstadt weist zwei Hauptgassen auf, die durch die äusseren Randbebauungen umfasst werden, es gibt einen Marktplatz vor der Kirche sowie zwei Stadttore, um nur diese wenigen Merkmale einer mittelalterlichen Stadt zu umschreiben.

Die Stadt Zürich, um den Rahmen etwas auszuweiten, weist ca.4‘310 Einwohner pro Quadratkilometer auf. Eine der dichtesten aber auch beliebtesten Städte der Schweiz. Monaco indes, ein beliebter Ferienort mondäner Touristen, weist eine exponentiell hohe Dichte auf, nämlich ca. 18‘200Einwohner pro Quadratkilometer. Beiden Städten wird eine hohe Lebensqualität zugesprochen.  

Neben der Einwohnerdichte gilt heute der Flächenverbrauch pro Kopf als massgebende Grösse in der Frage der «Entwicklung nach Innen», wie Verdichtung heute umschrieben wird. In den 80er Jahren wies in der Schweiz der Flächenverbrauch pro Kopf noch rund 34 Quadratmeter auf, worauf er sich bis zum Jahr 2000 um 30 Prozent, auf 45 Quadratmeter, erhöht hat. Mit der zunehmenden Bautätigkeit in der Stadt Zürich hat sich der Flächenbedarf mittlerweile auf ca. 39 Quadratmeter eingependelt. Der Flächenverbrauch der Stadt Aarau liegt hingegen heute noch rund 25 Prozent höher als der der Zürcher, nämlich bei 48Quadratmeter.  

Es kommt darauf an

Vergleicht man die qualitativen und quantitativen Aspekte miteinander, muss man feststellen, dass heute in der öffentlichen Diskussion leider zu emotional über die «Entwicklung nach Innen», die Verdichtung, diskutiert wird. Viel zu oft wird ein Gefühl der «engen Verhältnisse» behauptet, ohne bestehende Beispiele mit zu berücksichtigen, in denen Verdichtung bereits in hoher oder gar höchster Qualität gelebt wird. Man denke an Altstädte mit ihren engen Gassen und ihren kleinen Plätzen, die uns immer wieder zum Verweilen einladen. Oder Monaco, eine wundervolle Ferienstadt, die aus aller Welt Menschen anzieht.

Andererseits ist auch klar, dass bäuerliche Ensembles in Weilern kein hohes Mass an Dichte vertragen. Die Landschaft ist dort tragendes Element. Sie darf nur sehr massvoll bebaut werden. Das Quantum an Verdichtung muss also bezüglich Verträglichkeit an jedem Ort neu überprüft werden. Es ist individuell und nicht als Schema übertragbar.

Die Ausgestaltung der städtebaulichen und architektonischen Qualitäten, aber auch die Qualitäten der Aussenraumgestaltung sind gutbeeinflussbare Grössen, mit denen Lebensqualität und eine lebensbejahende Atmosphäre geschaffen werden kann. Das Mass an traditionellem Baukulturerbe innerhalb einer Gemeinde muss immer wieder neu überprüft und definiert werden. Ein Gleichgewicht zwischen Alt und Neu sowie ein aufeinander abgestimmtes Farb-und Materialkonzept mit grossem Augenmerk auf die Aussenraumgestaltung würde jeder Gemeinde die verloren gegangene Identität zurück schenken.

 

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